An das Arschloch, das mich geohrfeigt hat
Liebes Arschloch
Ich danke dir. Du hast mich diesen Sommer ordentlich herausgefordert mit dieser völlig unnötigen Ohrfeige, an diesem einen Montagmorgen im Juni.
Ich danke dir, weil du mir die Chance gegeben hast, mich zu beweisen. Zu beweisen, dass ich mich wehren kann. Dass ich stark bin. Und du keine Macht über mich hast.
Hysterisch heulend bin ich dir mit meinem Smartphone in der Hand hinterhergerannt. Einerseits war ich völlig neben mir, total im Schock. Gleichzeitig habe ich geistesgegenwärtig mein Smartphone gezückt, bin dir mit der laufender Videoaufnahme hinterher. Ich wusste: im richtigen Moment ein Foto zu machen wäre viel schwieriger.
Und tatsächlich hast du direkt in meine Kamera geschaut. Man hört mich auf der Aufnahme, wie ich dir zurufe, «ich werde Sie schon finden!»… nur um anschliessend vollends die Beherrschung über meine Emotionen zu verlieren. Warum? Weil mehrere Personen alles gesehen haben und keiner reagiert hat.
Die Ohnmacht der Zuschauer
Ich habe um Hilfe geschrien. Ich habe gerufen, dass mir jemand helfen soll, weil ich soeben geschlagen worden sei. Niemand hat reagiert. Ich wurde angestarrt, als wäre ich nicht ganz hundert. Eine Frau habe ich direkt angesprochen: «Warum helfen Sie mir nicht?!» Die Antwort? «Ich habe ja nichts gesehen.» Sie drehte sich von mir ab und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung.
Offenbar war ich so hysterisch, dass die Leute damit nicht umzugehen wussten. Schliesslich bist du, liebes Arschloch, nach der Ohrfeige schweigend davongegangen, als wäre nichts passiert. Es sah aus, als würdest du von dieser Furie (ich) grundlos verfolgt. Dabei warst du es, der mich wenige Sekunden zuvor noch angeschrien hast, dein Gesicht dabei 20 cm von meinem entfernt. Aber wahrscheinlich hat die Ohrfeige auch dich überrascht.
Es war demütigend, erniedrigend. Beschämend auch. Da wird man in der Öffentlichkeit nicht nur von einem Fremden geschlagen, sondern auch noch komplett ignoriert. Dabei habe ich mich an alle Tipps gehalten, die man mir im Selbstverteidigungskurs beigebracht hat: Um Hilfe schreien, laut werden, Menschen direkt um Hilfe bitten und ansprechen.
Warum ich dankbar bin
Ich bin nicht dankbar dafür, gelitten zu haben. Schon gar nicht dafür, dass ich nach der Ohrfeige mit Angstattacken, depressiver Verstimmung und Flashbacks zu kämpfen hatte. Ich konnte wochenlang kaum arbeiten. Es fehlte an Motivation und vor allem an Konzentration.
Aber ich habe dich angezeigt, d.h. einen Strafantrag gestellt (eine Ohrfeige muss die Polizei nicht ahnden). Ich war direkt nach dem Vorfall bei der Polizei, hab wundertolle Bilder meines verheulten Gesichts (naja, eigentlich von der roten Wange) machen lassen, habe ehrlich erzählt, was passiert ist und die Polizei darum gebeten, dich zu suchen.
Und sie haben dich tatsächlich gefunden. Mittlerweile bist du zu einer Busse verurteilt. Und solltest du je wieder einer Frau Schmerzen zufügen, würden die Behörden «meine» Ohrfeige finden. Es darf nicht sein, dass man auf dem Weg zur Arbeit geschlagen wird. Auch eine Ohrfeige darf kein Kavaliersdelikt sein. Ich bin mir sehr bewusst, dass eine Ohrfeige «nicht so schlimm» ist.
Ich konnte nicht anders, ich musste mich wehren
Nichtsdestotrotz hatte auch diese Ohrfeige einen massiven Einfluss auf mein psychisches Wohlergehen. Und darum musste ich auch diese «kleine» Ungerechtigkeit melden. Ich konnte nicht anders, ich musste einfach alles daran setzen, dich, liebes Arschloch zu finden und zu bestrafen. Allzu oft war ich in meinem Leben bereits wehrlos. Ich hatte mit 18 eine Depression, die mir sämtliche Kontrolle über mein Leben geraubt hat. Ich habe mit 20 psychische und körperliche Gewalt in einer Beziehung erlebt und erst zig Jahre später überhaupt erst verstanden, dass das Verhalten meines damaligen Freundes nicht normal war.
All diese Erlebnisse habe ich hinter mir gelassen (naja, zumindest fast), aber sie haben weiterhin einen blöden Nachgeschmack. Denn ich habe mich damals nicht gewehrt. Ich habe es über mich ergehen lassen. Beim einen konnte ich mich nicht wehren, weil man sich nunmal nicht so einfach gegen eine Depression wehrt, beim anderen habe ich schlicht alles mögliche akzeptiert. Denn mir wurde ja eingebläut, dass meine Meinung, mein Empfinden, mein Bauchgefühlt – ja ich – völlig daneben läge. (Gaslighting, kennsch??)
Aber dieses Mal würde ich mich wehren. 20 Jahre später. Who cares. Es war nur eine Ohrfeige, aber das Erlebnis war trotzdem scheisse. Das Gefühl, mich gewehrt zu haben und dabei zu 100% meinem Bauchgefühl gefolgt zu sein ist einfach grossartig. Befreiend! Stärkend! Dieses Gefühl ist bombe. Ich kann das. Ich kann auf mich und mein Bauchgefühl hören, ich kann danach agieren und ich kann Ungerechtigkeiten durchstehen. Und für diese Erkenntnis bin ich dir dankbar, liebes Arschloch.