„Lass die Depressionen dich nicht definieren!“ – So ein Blödsinn.

Als bei mir mit 19 zum ersten Mal Depressionen diagnostiziert wurden, war das eigentlich kein grosser Schock. Es gab nun eine Erklärung für meine panische Versagensangst vor der Matur, das ständige grundlose Heulen und mein praktisch nichtexistentes Selbstwertgefühl. Ich hatte das, was sie Depressionen nannten. Und doch sprach eigentlich niemand je mit mir darüber, was dies wirklich genau bedeutet, dass dies eine anerkannte Krankheit ist, welcher valide Gründe zugrunde liegen und dass ich damit alles andere als allein bin. Denn deiner Psychologin wöchentlich auf ein Neues zu erzählen wie es dir denn DIESE Woche so geht, hilft kaum, wenn sie dir nicht erklären kann, wie sich diese lähmenden Gefühle einordnen lassen. (Ich erinnere mich an keinen einzigen schlauen Satz dieser Frau. Einzig weiss ich noch genau, wie sie sich das gefärbte Haar nun bereits 2cm weit rauswachsen liess und wie grauenhaft dies bei ihrem fragwürdigen 3cm Bubikopf-Haarschnitt ohne nur den geringsten Hauch von Make-up aussah. Und alles woran ich während den Sitzungen denken konnte, war verdammte Scheisse, wer geht so zum Haus raus?!)

Mit 19 war ich zwar froh, dass ich nun erfolgreich einen Faltflyer mit dem Namen „Was sind Depressionen?“ in der Hand hielt. Weil mir aber trotzdem von meinem ganzen Umfeld das Gefühl vermittelt wurde ’nicht normal‘ oder eben ‚anders‘ zu sein, war die Diagnose auch extrem enttäuschend. Was hilft ein Label, wenn die Message heisst: „Du weisst ja jetzt was du hast, also kannst du es jetzt doch auch bitte besser vor uns verstecken. Es esch drom so müehsam (übersetzt: onangnehm), wenns der ned guet goht, weisch.“ Natürlich habe ich noch immer ständig grundlos geheult, musste ein halbes Jahr vor Matur die Schule abbrechen und habe mich tagelang im Bett verkrochen und darauf gewartet, dass irgendetwas passiert. Mein Bett war jahrelang der einzig sichere Zufluchtsort vor all dem Beängstigenden da draussen (oder auch Leben und Zukunft genannt).

Aber klar, mein Leben war sicherlich nicht nur depressiver Müll. Ich war intelligent, hatte vielerlei Talente, eine liebende Familie, war irgendwie hübsch geraten und hatte weitere Interessen wie Tanzen und Musik – eigentlich ein total normales Leben. Und weil ich in meinem (objektiv betrachteten) Leben eben alles andere als ein Totalversager war, sondern ’nur‘ die grundlos Depressive, war ich von meinem Umfeld und der Gesellschaft immer wieder mit folgender Botschaft konfrontiert: „Die Depression definiert dich nicht! Du schaffst es deine Depressionen zu überwinden. Schau, dann könntest du so viel mehr erreichen!“ Damals mögen diese Worte ja vielleicht etwas Aufmunterndes gehabt haben, heute machen sie mich aber nur noch wütend.

Ja, ich war jahrelang depressiv. Ich leide an einer sogenannten endogenen Depression. Oder an einer genetisch bedingten, je nach Artikel oder Lehrbuch, das man gerade liest. Und die endogene Depression kommt von innen und hat tatsächlich keinen logischen Grund. Ja, ich werde mein Leben lang darum kämpfen müssen, gesund zu bleiben und stets ganz genau auf die leisesten Anzeichen hören müssen, um nicht wieder in den Sumpf der trüben Gefühle abzugleiten. Eine Garantie, dass dies nicht plötzlich wieder geschieht, gibt mir keiner. Aber ich habe es geschafft nach über 10 Jahren wieder glücklich zu sein. Ich weiss was es heisst, krampfhaft und mit der allerletzten Energie zu strampeln, um nur knapp die Nase über Wasser zu halten. Doch heute schwimme ich gemütlich durch das Leben – ganz ohne nach Luft zu ringen. Und wenn ich diesen – ja, verschissenen, depressiven Weg nicht hätte zurücklegen müssen, ja, dann wäre ich heute nicht die, die ich bin. Und diese Person, die ich heute bin, die mag sich sehr. Ich bin so abartig geprägt von meiner Vergangenheit und musste in jahrelanger harter Arbeit lernen, mich selber zu akzeptieren und mich lieb zu haben. Ich bin extrem selbstreflektiert und hochsensibel und kann dadurch mein Gegenüber besser spüren, Probleme besser ansprechen, merke Konflikte bevor sie eskalieren, kann vermitteln und ganz einfach eine bessere Freundin und Ehefrau sein. Ich habe mehr Mitgefühl, kann andere in Krisen besser unterstützen und herzhafter lachen. Ich habe es geschafft erfolgreich mit meiner Diagnose zu leben und sie für mich als Ansporn zu nutzen, eine bessere Version meiner selbst zu sein. Mir also zu sagen, meine Depressionen definieren mich nicht, heisst so viel wie mir meine Identität abzusprechen. 

Aber ich weiss, der Satz ist gut gemeint. Er sollte mir helfen meinen Selbstwert zu erhalten: „Du bist mehr als deine Krankheit!“ Und damals im akuten Stadium der Krankheit hat er auch Sinn gemacht. Heute nicht mehr. Heute will ich dazu stehen, meinen Weg TROTZ der Krankheit gegangen zu sein. Denn wie das Schweizerische Gesundheitsobervatorium in seinem Bericht Depressionen in der Schweizer Bevölkerung aus dem Jahr 2013 schreibt, „behindert ein früher Krankheitsbeginn die schulische Laufbauen, die Berufsausbildung und die Etablierung auf dem Arbeitsmarkt“. Jap, da sollst du dich für eine berufliche Laufbahn entscheiden, den Berufseinstieg schaffen und alles worüber du selber nachdenken kannst, ist wie du den nächsten Tag überhaupt überstehen sollst! Und aus diesem Dilemma herauszukommen und mich in der Berufswelt zu behaupten, das war die bisher grösste Aufgabe meines Lebens. Denn wir Depressiven kennen den mitleidigen Blick der Therapeuten: „Vielleicht sollten Sie sich einfacheren Aufgaben widmen.“ Okay, wo chani mini Intelligenz go abgää? Bruche si offesichtlich ned.

Ich will mich nicht weiter verstecken müssen als wären Depressionen etwa Ansteckendes. Es MUSS mehr über diese Themen geredet werden, denn wenn ich damals im Internet von anderen Betroffenen hätte lesen können, dann hätte ich mich nicht so allein gefühlt. Ich hätte mich mit anderen austauschen können. Freunde und Familie hätte kein so riesiges Tabu aus der Diagnose gemacht, besser gewusst wie mit mir umzugehen und allgemein hätte mir mein Umfeld nicht so stark das Gefühl gegeben als Depressive ein minderwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Ich weiss nicht, wie viel ich damals schon hätte verstehen können, aber es ist mir einfach unerklärlich, wie ich jahrelang von verschiedensten Therapeuten betreut wurde und keiner hat es ansatzweise geschafft mir je das Gefühl zu vermitteln, dass das was ich da habe, etwas ist, was viele andere auch haben. Dass es nichts ist, was in jeden Fall versteckt werden muss. Dass es alternative Möglichkeiten gibt, sich mit Depressionen auseinanderzusetzen als wie verblöded alles dafür zu tun, dass es auch bloss keiner merkt! #huereasträngendimfall Sich in der Gesellschaft verstecken zu müssen, weil man ist, wie man ist, ist das schlimmste überhaupt. Denn es sagt dir klipp und klar, dass du nicht gut genug bist.

Wer nun denkt, dass ich mit diesem Blogpost nur Aufmerksamkeit suche, dem kann ich sagen, dass ich das selbstverständlich tue. Aber nicht um Mitleid für mich und meine Geschichte zu kriegen, sondern um Personen zu erreichen, die aktuell von Depressionen betroffen sind und sich wie ich damals Verständnis wünschen. Verständnis und Akzeptanz dafür wie sie sind.

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